Bulletin Editorial: Wer wirklich systemrelevant ist
Die Art und Weise, wie wir Zuger*innen die Coronakrise erlebt haben, könnte wohl kaum unterschiedlicher sein. Während sich Junge ohne Betreuungspflichten bereits nach wenigen Tagen mit ausgefallenen Brotback-Rezepten zu beschäftigen versuchten, verlangte die Krise von anderen Menschen viel ab. Gerade für Alleinerziehende und Familien gestalteten sich die Wochen belastend.
Mittlerweile kehrt eine gewisse Normalität zurück und es stellt sich die Frage nach den längerfristigen Auswirkungen dieser Pandemie. So prophezeite beispielsweise der slowenische Philosoph Slavoj Zizek, dass das Coronavirus unsere grundlegende Einstellung zum Leben verändern werde, kein Stein bleibe auf dem anderen. Auch der Begriff der Systemrelevanz hat eine neue Bedeutung erhalten. Trotz ihrer riesigen Löhne sind es nicht der Rohstoffspekulant, der Immobilienverwalter oder der Kryptowährung-Fondmanager, welche essenziell für das Funktionieren unserer Gesellschaft sind. Es ist die Kassiererin in der Migros, die Pflegefachfrau im Altersheim oder Spital oder die Kinderbetreuerin. Wenn diese Menschen auf einen Schlag nicht mehr da wären, da wäre unsere arbeitsteilige Gesellschaft nicht mehr Überlebensfähig. Paradoxerweise sind genau diese die Jobs, welche unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden, unregelmässige Arbeitszeiten aufweisen und auch überdurchschnittlich oft von Migrant*innen ausgeübt werden.
Diese Krise zeigt Ungleichheiten aufgrund von Herkunft oder Geschlecht schonungslos auf. Schon vor dem Virus waren diejenigen überlastet und gestresst, die sich unbezahlt um Kinder, Alte und Kranke kümmern, auch auf Kosten ihrer eigenen finanziellen Absicherung. Diese Care-Arbeit wurde bereits vor der Schließung von Kitas und Schulen zum größten Teil von Frauen* getragen, so leisten Frauen* jedes Jahr unbezahlte Care-Arbeit im Umfang von fast 100 Milliarden Franken.
Der Lockdown hat auch die Schwächen unserer hochgradig-vernetzten Welt aufgezeigt. Auf Profit und Echtzeit-Lieferung getrimmte Lieferketten brechen bei Lockdowns zusammen. Das Gesundheitssystem in Ländern, welche in den letzten Jahren Sparpolitik betrieben haben, konnte die Krise viel schlechter bewältigen, privatisierte Gesundheitswesen versagten gar total.
Im direkten Gespräch kriege ich den Eindruck, dass diese Krise für viele eine Zäsur darstellt. Ich bin vielleicht ein unverbesserlicher Optimist aber ich glaube doch, dass von dieser Krise auch etwas Positives zurückbleiben kann. Indem beispielsweise in den Quartieren öffentliche Gemeinschaftsbüros eingerichtet würden und Unternehmen mehr Flexibilität zeigten, könnte auch nach Covid-19 vermehrt dezentral gearbeitet werden. Die Entschleunigung und eine massvollere Mobilität könnte längerfristig die Pendlerströme reduzieren. Beim diesjährigen Sommerurlaub wird der einen oder anderen Schweizer*in der massive Gletscherschwund und die Veränderung in den Alpen bewusst. Und beim Entdecken von Schweizer Städten würde sich wohl auch der eine oder andere Autofreie Innenstädte wünschen. In Zeiten des Umbruchs wird undenkbares plötzlich denkbar. Denn in den letzten Wochen und Monaten zeigte sich auch, wie schnell und grundlegend sich eine Gesellschaft ändern kann, wenn sie will und sich von wissenschaftlichen Erkenntnissen leiten lässt.
Dieses Editorial ist im Politmagazin Bulletin 2/2020 erschienen.